Der geschärfte Gerechtigkeitssinn eines
Beamten
Vor Gericht erschienen sind Herr Dr. M., Ende Fünfzig mit
Rechtsanwältin als Kläger und der Regierungsassessor J. mit Rechtsanwalt
als Vertreter des beklagten Landes.
Herr Dr. M. hatte zehn Jahre als
angestellter Lehrer an einer kirchlichen Schule gearbeitet. Dann wechselte
er an eine staatliche Schule und wurde ins Beamtenverhältnis übernommen.
Nun könnte man denken, Herr Dr. M. hat mit dem Beamtenstand die
Verwirklichung seines privaten Glücks erreicht. Nein, dem ist nicht so. Er
musste nämlich feststellen, dass seine Tätigkeit als angestellter Lehrer
an einer Privatschule zwar als „Beschäftigungszeit“ für sein
Altersruhegeld angerechnet wurde, aber nicht als beamtenrechtliche
„Dienstjahre“ für seine gehaltsmäßige Eingruppierung.
War dem Lehrer
Dr. M. zehn Jahre lang als Angestellter kein klagenswertes Unrecht
geschehen, so entdeckte er nach seiner Erhebung in den Beamtenstand diese
Ungleichbehandlung.
Der Richter meinte, er habe nur Fälle erlebt, wo
Angestellte klagten, weil ihnen bestimmte Beamtenprivilegien vorenthalten
wurden. Herr Dr. M. sei jedoch mit seinem langjährigen Arbeitsverhältnis
nach BAT immer zufrieden gewesen. Aber – so wirft die Rechtsanwältin ein –
das Land habe es versäumt, ihren Mandanten darauf hinzuweisen, welche
Nachteile er in Kauf nehme, wenn er Jahr für Jahr im
Angestelltenverhältnis bliebe, statt an eine staatliche Schule mit
Beamtenverhältnis zu wechseln.
Das Unrecht, das Herrn Dr. M. zehn Jahre
lang geschah, wurde also erst sichtbar, als es beseitigt war. Ja, eben
nicht ganz beseitigt: Da fehlen eben noch zehn Dienstjahre.
Und was
führte Herr Dr. M. juristisch ins Feld? Die Privatschule, an der er
gearbeitet habe, sei in Wahrheit eine öffentliche Schule gewesen, denn es
habe mit dem Land einen „Bestellungsvertrag“ gegeben, so dass das Land
Lehrer an diese Schule abgeordnet hatte. Herr Dr. M. war zwar nicht an
diese Schule abgeordnet worden, aber er wollte die beamtenrechtlichen
Wirkungen einer Abordnung. Was bei anderen billig ist, das soll bei Herrn
Dr. M. recht sein.
Man merkt, wie kompliziert ein Beamtenhirn arbeitet.
Wie der Volksmund weiß: Mit dem Amt kommt der Verstand. Wäre Herr Dr. M.
angestellter Lehrer geblieben, er hätte nie bemerkt, wie ungerecht er
einmal behandelt werden würde, sobald er Beamter geworden ist!
Der
Richter fragt bei den Vertretern des Arbeitsherrn von Dr. M. an, ob sie
denn in dem Fall eine Vergleichschance sehen. Könnte man denn nicht
wenigstens das eine oder andere Jährchen ..."
Nein, man sah keine
Vergleichschance. Das umso weniger, als im Juli 2002 ein Kollege von Dr.
M. in genau der gleichen Sache geklagt habe und seinen Prozess vor dem
Arbeitsgericht verloren habe.
Der Richter kannte das Urteil nicht und
fragte die Klägerpartei, ob sie den Fall kennen würden. Sie kannten
ihn.
Der Richter fragte Herrn Dr. M. ob er nicht angesichts der
geringen Chancen seine Klage zurückziehen wolle.
Nein, er wollte nicht.
Und seine Rechtsanwältin fügte hinzu: Sie habe die Chancen für Herrn Dr.
M. anhand des verlorenen Parallelfalls durchgesprochen und ihn auch darauf
hingewiesen, welche Gerichtskosten auf ihn zukämen.
Nicht jeder kann
den subtilen Windungen eines Beamtengehirns folgen.
Wal Buchenberg,
18.11.2002.
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